Leitartikel
"Cirqu'enflex" ist zwar ein Wanderzirkus, hat aber nicht im entferntesten
mit Zirkus zu tun. Und ist doch Zirkus. Aber einer, wie man ihn nicht
kennt. Die Rose ist keine Rose ist eine Rose. Der Kern ist Artistik. Artistik,
wie man sie im herkömmlichen Zirkus oder im Variété
auch sehen könnte. Beinahe jedenfalls.
Da kommt das Fangsthul zum Zug, das Kunstrad, das Rhonrad, die Artisten
fliegen durch die Luft. Doch das alles ist nur Handwerk. Im normalen Zirkus
wäre das der Anfang und das Ende und die Mitte auch noch. Da wäre
Kunstfertigkeit gefragt, virtuoses Turnen, alles, was man sich mit viel
Fleiss und Beharrlichkeit erarbeiten kann. Bei "Cîrqu'enflex" dagegen
ist das offensichtlich nur "Uebungssache".
Das kann man halt, wenn vielleicht auch nicht so maniriert wie die in den
grossen Arenen. Aber eben: bloss Fleissarbeit. Nichts, wommit man hausieren
wollte.
Grosses Können zeigen die Kunstlerinnen und Künstler, als ob
es nicht wirklich was Wichtiges wäre. Ist es auch nicht. Für sie
ist Artistik ein Darstellungsmittel, nicht Selbstzweck. Und das macht die
Artistik wiederum zu etwas ungenmein Attraktivem.
DANIEL SCHALLIBAUM, NEBELSPALTER NR. 31/ 1995
DAS KUNSTSTÜCK LIEBE / FEUILLETON
Theater/ Cîrqu'enflex mit "Light" auf dem Gaswerkareal
era. Als ob die Liebe nicht schon Kunststück genug wäre. Und erst
die Ménage a trois. Und erst diejenige von Mutter. Tochter und Geliebtem.
Der internationalen Altistentruppe Ctrqu'enflex glückt sie auf magische
Weise, ohne dass der Schmerz geleugnet würde.
Vieles hat sich seit denn letztjährigen Programm Zoom verändert.
Kein Igluzelt hält mehr die Einzelteile zusammen - weshalb, ist im
Programmheft nachzulesen. Die bündelnde Kratt kommt nun ganz aus dem
Stück, das mehr denn je ein wirkliches Stück, ja ein Kammerspiel
ohne Worte ist. Nicht dass Cîrqu'enflex irgend etwas von seiner Bnllanz
verloren hätte, doch vorübergehend zum schweizerischen Artistentrio
geschrumpft, nutzt es diese Chance.
Da schläft einer, erwacht, und es baumelt ihm eine Frau kopfunter
vor den verliebten Augen. Nicht direkt vom Himmel, auch wenn es sich so
anfühlt, sondern gehalten von der Nebenbuhlerin. Buchstäblich
voneinander abhängig sind die Artisten und die Liebenden. So nimmt
die kompliziert einfache Geschichte ihren Lauf
Die Mutter (BeaNicheleWiggli) bringt der Tochter (Catherine Ru ishauser)
bei, wie man sich richtig schminkt, und los geht der Kampf um den Mann.
Da ist Eifersucht, da wird zweien das Liebeslager untern fliegenden Hintern
weggezogen, da wird aber auch jedes Feschnallen am Sicherungsseil zum Liebesspiel.
Welchen Spass können auch die beiden Frauen zusammen haben, wenn der
Mann weg ist, das Elastikseil zum Trapez wird und sie fliegen wie die Hexen
am Brocken ! Nicht nur die Kinder im Publikum kreischen vor Vergnügen
.
Melancholische Leidenschaft
Wen wundert's, dass da der Mann kein strahlender Manegenheld ist,
der seine Partnerinenn durch die Luft wirbelt, sondem ein muskulöser,
traurigerTräumer. Er, Fabian Nichele Wiggli, widerlegt das Kichern
der beiden Frauen un des Publikums, indem er zwar neben seinem Kunstrad
posiert, als wär's ein Ferrari, dann aber in langem Rock und gleichsam
im Damensattel sitzend ins Pedal tritt. Eine unendlich zärtliche Dressurnummer
schenkt er mit seinem Kunstrad diesem Zirkus, der ohne Clowns und ohne Tiere
auskommt.
Was Cîrqu'enflex als Übergangsprogramm präsentieren
wollte, entpuppt sich als abgerundetes, anrührendes Kunstwerk.
Der Bund, Montag, 6 Juli 1998